Die Titelliste der neuen Tori-Amos-CD "Strange little girls" liest sich wie eine Schatzkarte durch dreißig Jahre Rockmusik. Alle zwölf Songs stammen diesmal ausnahmslos aus fremder Feder: Lou Reed, Eminem, Stranglers, Depeche Mode, 10cc, Lloyd Cole, Tom Waits, Boomtown Rats, Beatles, Slayer und Joe Jackson - hier ist die Crème de la crème versammelt, erstaunlicherweise ausnahmslos Männer mit Songs über Frauen oder über die Beziehung zwischen Mann und Frau. Es sind Songs, die das Geschlechterverhältnis natürlich nur aus männlicher Sicht beschreiben.
Coversongs von männlichen Autoren - das hätte schlimmstenfalls ins Lächerliche abstürzen können, bestenfalls in die Belanglosigkeit. Doch die feministischen Bedenkenträger(innen) brauchen nicht die Stirn zu runzeln. Denn Tori Amos covert nicht, sie erfindet jeden einzelnen Song neu und macht ihn zu ihrem Eigentum.
 Nehmen wir "Rattlesnakes", eines der vielen Glanzlichter dieser CD, geschrieben von Lloyd Cole und Titelstück seiner genialen ersten LP. Während Lloyd Cole mit kühler Distanz die Geschichte jener jungen Frau namens Jodie erzählt, die wie Eve-Marie Saint aussieht, Simone de Beauvoir  liest, nach einer Abtreibung aus einer zerbrochenen Beziehung flüchtet und jetzt mit ihrem Wagen on the road ist, verleiht Tori Amos dieser Story etwas Trotziges - Jodie ist kein Opfer, Jodie handelt als selbstbewusste junge Frau. Sie weiß: "A girl needs a gun these days on account of all those rattlesnakes". Tori Amos' "Rattlesnakes" sind nicht die kleinen und großen Gefahren, die unterwegs auf jeden lauern, Tori Amos' Klapperschlangen sind männlich.
Auch "Heart of gold" wird völlig umgekrempelt: Das Original von Neil Young besticht durch seinen süßen Schmelz, der kurz davor steht, ins Kitschige zu kippen.  Und was macht Tori Amos daraus? Sie interpretiert "Heart of Gold" so, wie Neil Young diesen Song in seiner Rolle als Ur- und Übervater des Grunge aufgenommen haben könnte. Nirvana lassen grüßen.
Auf die gleiche kluge Art und Weise wird aus "Happiness is a warm gun" vom weißen Album der Beatles eine Hommage an John Lennon und zugleich ein Statement gegen den phallischen Waffenkult in der USA.
Selbst an Depeche Mode hat sich Miss Amos herangewagt. Sie macht aus dem flockig leicht dahinfließenden Pop-Ohrwurm "Enjoy the silence" einen Song mit Widerhaken, bedrohlich, melancholisch - großartig.
Damit sich die Songs tatsächlich so erschließen lassen, wie Tori Amos sie umgedeutet hat, gibt es im beiliegenden Booklet für jeden Titel der CD ein Foto, das die Künstlerin in eben jener Rolle zeigt, aus der heraus sie den entsprechenden Song interpretiert hat.  Tori Amos als Glamour Girl, als kühle Intellektuelle, weiblicher Sheriff, selbstbewusste Ausreißerin oder als amerikanische Hausfrau mit Geburtstagstorte - perfekte Rollenwechsel. Fotograf, Friseur und Stylistin haben ganze Arbeit geleistet. Sie zeigen, wie man eine Person durch Makeup, Frisur, Accessoires und Kleidung vollständig verändern kann - eine Erfahrung, die Kollegen wie Michael Jackson bisher nur unter dem Skalpell haben machen können...
|
